Gedanken zur Nacht

  • Die Depression kommt über Nacht, aber nicht heimlich. Nein, Du ahnst sie schon, sie schickt ihre dunklen Boten voraus.
    Gereizt bist Du, unglücklich, tust jeder Fliege was zu leide, verschreist Dich an Deiner Tochter, obwohl die
    doch nur lacht, spielt, fröhlich ist. Zu fröhlich für Dich?


    Die Depression kommt über Nacht, fährt Dir in die Glieder, lässt sie starr werden, erzittern, den ganzen Körper erzittern,
    Dich erzittern, bis Du rappelst wie ein dürrer Zweig im Wind, hin- und hergerissen, wo ist nur Deine Standhaftigkeit geblieben,
    und wen soll das wundern, bei all den nicht gewachsenen Wurzeln?


    Die Depression kommt über Nacht, sie umpackt Deine Schultern, schnürt Dir die Kehle zu, so dass Du nicht kotzen kannst,
    obwohl es doch raus will, all das, was Dich ankotzt, heraus damit, was zu viel ist, was Du zu viel geschluckt hast,
    Dir selbst aufgebürdet.


    Die Depression kommt über Nacht, sie steigt Dir zu Kopf, macht Dich schwindeln und hellwach, obwohl Du so müde bist, todmüde,
    seit Tagen nicht richtig geschlafen. Du wandelst umher, die Decke um die Schultern, wenigstens etwas, das Dich
    behütet, du läufst und läufst, leise, leise, das Kindlein schläft, drehst Dich im Kreis, damit der Schmerz aufhört, und der Druck
    auf Dir, unter dem Du nicht weißt, ob Du kotzen oder scheißen oder einfach nur zusammen brechen sollst.


    Die Depression kommt über Nacht, und Du weißt, bald schon ist Morgen, schon wieder Morgen, ein neuer Tag, schon wieder,
    Du wirst auch ihn überstehen, wie Du immer alles überstehst, aber Du hast Angst, panische Angst, dass Du zusammenbrichst,
    dass Du für Dein Kind nicht da sein kannst, seht her, sie schafft es nicht, wir haben es schon immer gewusst, dass da
    wieder einer einen falschen Ton sagt, der Dir so weh im Körper tut wie all die Schnitte in Deine Seele.
    Wann endlich werden sie heilen? Sie werden nicht heilen.


    Die Depression kommt über Nacht, und Du erkennst Dich nicht wieder, bist ein Haufen Leib und Seele am seidenen Faden,
    keiner da, der ihn spielt, keiner da, der Dich führt, keiner da, der ihn Dir aus der Hand nimmt und gegen ein dickes, sicheres
    Seil tauscht, das Dich aus dem Abgrund zieht.


    Die Depression kommt über Nacht, und was bleibt Dir, als diese Nacht abzuwarten, da keiner neben Dir liegt, keiner ans Telefon
    geht, keiner Dich in den Arm nimmt und nur einmal sagt: Lass los, lass gehen, das wird schon.


    Die Depression kommt über Nacht und schmiegt sich in Deinen Nacken. Selbst schuld, flüstert sie deliziös, selbst schuld,
    wo hast Du Dich nur wieder reingeritten, Du hast doch genau gewusst, dass dieses Pferd nicht zu reiten ist, und jetzt stehst Du hier
    mit Deiner ganzen Schuld und Deinem ganzen schlechten Gewissen in den Händen, es klebt so sehr, es geht nicht weg, auch,
    wenn Du noch so oft versuchst, verzweifelt versuchst, sie in Unschuld zu baden.


    Die Depression kommt über Nacht, und wenn sie sich endlich in Dir eingerichtet hat, häuslich, wie eh und je, denn Ihr seid so
    gute Bekannte, Freunde in einer Hassliebe, Liebe bis auf den Tod, dann setz‘ Dich hin und schreib‘. Schreib‘, damit die Schmerzen
    die Tastatur quälen und nicht mehr Dich, schreib‘, weil es das einzige ist, was Dir geblieben ist, dieses eine Talent, das Dir keiner
    genommen hat in all den Jahren, schreib‘, als ob es Dein letztes Mal wäre, von dem Du weißt, dass es nicht sein wird, noch viele Male wirst Du
    hier sitzen und es kaum aushalten vor verschluckter Gefühle, Wut, Trauer, Enttäuschung, die große Enttäuschung über die
    Menschen, die Dir all das angetan haben und denen Du all das antust, der große, große Schmerz, verwundet auf Lebenszeit.


    Die Depression kommt über Nacht, und wenn es Dir endlich, endlich gelingt zu weinen, wenn Du die Tränen erbrichst, nimmt sie
    langsam ihren Hut und geht, wie ein egoistischer Macho, der im Gehen sagt: Ich wollt‘ doch nicht stören.

  • nimmt sie
    langsam ihren Hut und geht, wie ein egoistischer Macho, der im Gehen sagt: Ich wollt‘ doch nicht stören.


    ... dass schlimme ist, zu wissen: sie geht nicht fort - nein sie lauert mir/ dir immer wieder auf :heul



    Danke Bri75 für deine Worte, für den Einblick in deine Gefühlswelt :troest


    Katrin, die diese Gedanken nur zu gut kennt ...

  • ein sehr schönes Talent was du hast und es ist so schön das du es auch nutzt. Mit deinen offenen ehrlichen Worten sprichst du sicherlich nicht nur mir aus dem Herzen. Vielen Dank das ich das lesen durfte.....

  • Die Nächte sind dunkel, aber die Tage sind hell.


    Warum zieht ihr euch gegenseitig so runter + und bohrt in den eigenen Wunden rum??? :ohnmacht: Kann ja nicht besser werden !!! Da hilft nur eines: sich selbst ablenken und der Seele ausschließlich Gutes tun + zwar 3x täglich :blume

  • Kann ja nicht besser werden !!! Da hilft nur eines: sich selbst ablenken

    Aber es hilft nicht, seine Gefühle wegzuschieben und sich dauerhaft "abzulenken". Bei solchen Gefühlen hilft es eher, sich mit anderen Menschen auszutauschen, und über diese Gefühle und deren Sinn nachzudenken. Ich sehe auch nicht wo man sich hier gegenseitig runterzieht.


    Hälst du mich für eine Bratwurst, oder warum gibst du deinen Senf dazu?

  • ... da ich selbst betroffen bin, weiß ich dass es helfen kann, sich vieles von der Seele zu schreiben - auch ich habe inzwischen 2 große Blöcke voll geschrieben, mit all meinen Gedanken - Einblick in das Geschriebene gab ich nur meinem Therapeuten


    von daher meinen ganzen :respekt denen gegenüber, die ihre Gedanken öffentlich/ frei äußern können.



    ich kann es nicht und wüßte auch nicht wo/ bei wem ...


    denn oft ist es so, dass Mitmenschen, die nicht betroffen sind gar nicht damit umgehen können. sie gar nicht wissen, wie sie helfen können etc.


    und gut gemeinte Ratschläge, wie: lenke dich ab, Kopf hoch, Wird schon wieder... etc. - sind für Betroffene nur noch mehr ein Schlag ins Gesicht ...



    ... meine Meinung !!!

  • Warum zieht ihr euch gegenseitig so runter + und bohrt in den eigenen Wunden rum???

    Mich ziehen Bri`s Worte nicht runter.


    Sie hat ein wunderbares Talent, Gefühle und Zwischentöne in Worte zu fassen. Das berührt mich und spiegelt auch mich teilweise wieder.


    Danke, Bri !

    Hunger


    Pipi


    kalt !


    So sind Mädchen halt.

  • Die Nächte sind dunkel, aber die Tage sind hell.


    Warum zieht ihr euch gegenseitig so runter + und bohrt in den eigenen Wunden rum??? :ohnmacht: Kann ja nicht besser werden !!! Da hilft nur eines: sich selbst ablenken und der Seele ausschließlich Gutes tun + zwar 3x täglich :blume


    ...sagt einer, der noch nie ein echte Depression hatte. Diese Srpüche kenne ich zu genüge. Und wenn Du wüsstest, wie mein Leben trotzdem aussieht, würdest Du so nicht reden.


    Übrigens: Hier in diesem Thread geht es nicht um Professionalität, sondern um die Gefühle, die man trotz allem immer wieder hat.
    Du musst Dich nicht angesprochen fühlen.


    @Bikerlicht: Ich leide seit meiner Jugend an Depressionen, deren Symptome zunächst psychosomatisch behandekt wurden, bis man nach einigen Tests herausfand,
    das der Serotoninhaushalt in meinem Gehirn nicht mehr stimmt. Hat aufgehört zu arbeiten, bei mir leider irreparabel. Wie bei einem Diabetiker der Stoffwechsel.
    Seit ich 20 bin, muss ich deswegen Medikamante nehmen (sogenannte SSRI, lässt sich leicht googeln).
    Natürlich habe ich auch eine Verhaltenstherapie hinter mir, die leider nichts bringt, wenn das Hirn nicht mehr will.
    Immer wieder versuche ich mit meinen behandelnden Ärzten, meine Dosis herab oder das Medikament ganz abzusetzen. Was dann passiert, liest Du oben.


    Da ich selbst pressetechnisch arbeite, habe ich alle Details der Depressions bis ins kleinste recherchiert, viele Beiträge darüber geschrieben und natürlich alle neuen Forschungsergebnisse verschlungen. Da kannst Du mit ein paar lauen Tipps nicht kommen, da lacht sich die Depression eins ins Fäustchen. Wir reden hier nicht von depressiven Verstimmungen, sondern chronischen Depressionen, manche bipolar.


    Durch Zufall bin ich an das ZI (Zentralinstitut für seelische Gesundheit) in Mannheim gekommen. Dort gibt es einen Forschungsbereich,d er sich u.a. mit chronischen Depressionen beschäftigt und eine neue Therapieform anwendet. Diese nennt sich CBASP, sie geht davon aus, dass frühe traumatische Elebnisse eine Entwicklungsstörungen der Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung zwischenmenschlicher Erfahrungen bewirken. Diese neue Forschungstheorie gibt es erst seit 2009, am ZI laufen jetzt Studien, wie sie sich statt VErhaltenstherapie auswirkt, und ob sie evtl. Medikamente überflüssig machen kann.


    Ich werde als Versuchskanninchen an dieser Studie teilnehmen. Zum einen, weil ich hoffe, noch mehr über meine Krankheit zu erfahren und vielleicht doch irgendwann ohne Medikamente leben zu können. Zumindest aber, wie ich diese Zusammenbrüche verhindern kann, die mein Hirn auslöst.
    Zum anderen, weil ich es so unsagbar wichtig finde, dass die Leute begreifen, was eine Depression ist, und was ihnen wirklich dabei helfen kann.


    Für diese Studie müsste ich einen mehrseitigen Fragekatalog mit sehr vielen persönlichen Details ausfüllen, danach komme ich in die Röhre, um mein Hirn zu checken, und währenddessen wird immer wieder das Serotonin überprüft. Es schließen sich 48 Stunden o.g. Therapie an.


    Und während all dieser Zeit führe ich, wie die Jahre zuvor auch, ein normales Leben, habe nebenbei studiert, bin jetzt Chefin in einem Unternehmen, habe meine Tochter großgezogen und ganz schön was auf die Beine gestellt. Trotz dieses Leidens. Eine ganz schöne Leistung, wenn Du mich fragst.


    Ich bin gespannt, was mich erwartet.


    Soviel zum Thema Professionalität----