Hallo ihr Lieben,
Vor einer Woche haben wir die Diagnose ADHS erhalten (also, eigentlich sie, aber es betrifft ja unser beider Alltag, drum sag ich "wir"). Ich bin grad dabei, mich etwas intensiver mit der Thematik zu befassen, mich zu belesen, mich mit meinem Ex kurzzuschließen, unseren Tagesablauf umzustrukturieren etc...
Unabhängig davon hat mich die Klassenlehrerin am selben Tag in die Schule einbestellt, da ihr wohl auch einige Dinge aufgefallen sind, die für ADHS sprechen (sie wusste nicht, dass wir deswegen beim Psychologen waren, das war also wirklich komplett unabhängig. Wobei- sie musste natürlich auch einen Fragebogen ausfüllen, wahrscheinlich hat sie sich also schon so etwas gedacht). Mit beim Gespräch dabei war ein wirklich engagierter Kollege aus der Förderschule, der die Lehrer der Grundschule beim Umgang mit ADHS-Kindern unterstützt. Beide fanden es toll, dass ich das "von alleine" abklären habe lassen und dass ich auch schon einen Termin bei einer Verhaltenstherapeutin ausgemacht habe (ich habe es tatsächlich geschafft, in der einen Stunde zwischen Psychologe und Schule eine Therapeutin zu erreichen und auch noch einen Termin im Februar zu ergattern :wow - ich war selber ganz verblüfft). Wir hatten ein sehr konstruktives Gespräch, in dessen Verlauf wir uns überlegt hatten, wie wir den Alltag für meine Maus in der Schule stressfrei gestalten können. Ihr Hauptproblem liegt darin, dass sie in anderen Menschen nicht "lesen" kann und keinen Plan hat, wie sie z.B. positiven Kontakt knüpfen und auch halten kann. Außerdem ist es ihr einfach nicht möglich, Ordnung an ihrem Platz in der Schule zu halten. Der Lehrer hat gemeint, das liegt daran, dass sie einfach nicht in der Lage ist, Strukturen für sich zu erstellen und sich daran zu halten - sowohl innerhalb ihres Kopfes, als auch außerhalb.
Zappelig ist sie natürlich auch, wobei sie neben der ganzen Hibbelei hervorragend im Unterricht mitarbeitet. Sie ist halt nur einfach immer irgendwie in Bewegung. Von den Noten her steht sie zwischen 2 und 3, da kann ich also auch nicht meckern.
Somit sind wir also zunächst einmal auf dem Weg. Ich versuche mir klar zu machen, dass sie für manche Dinge einfach nichts kann, dass ich ihr keine großen Aufgaben geben darf, sondern diese in "kleine Häppchen" aufteile etc. Ich bin dabei, eine Mutter-Kind-Kur zu beantragen, dieses Mal allerdings mit meiner Tochter als "Behandlungskind". Drei Jahre sind eh schon um, bis alle Ärzte die Anträge ausgefüllt haben etc. dauert es eh noch ein bisschen, und ich hoffe, aufgrund dessen, dass bei meiner Tochter eine Neuerkrankung vorliegt, dürfen wir schon etwas früher wieder fahren; ich peile jetzt mal so grob den Oktober an, in einer Klinik im Schwarzwald; vielleicht ja sogar zu der Zeit, in der das Treffen im Europapark geplant ist? Das würde ja prima passen.
Trotzdem fühle ich mich ein bisschen überfahren von der ganzen Situation. Vor allem die Frage: "Medikamente oder keine Medikamente?" treibt mich um. Einerseits habe ich (und auch mein Ex) extreme Bauschmerzen dabei, unser Kind mit einem Amphetamin vollzupumpen. Ich empfinde es nicht so, dass unser Alltag und vor Allem unser Kind durch das ADHS so eingeschränkt ist, dass dieser Schritt gerechtfertigt wäre. Vor Allem, wenn ich die gelisteten Nebenwirkungen bedenke: Gefahr des Minderwuchses, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Bluthochdruck usw.
Andererseits hat die Psychologin gemeint, dass es im momentanen Zustand vor Allem aufgrund ihrer Unstrukturiertheit aus ihrer Sicht unmöglich ist, dass sie aufs Gymnasium gehen kann, obwohl sie im Intelligenztest ein deutlich überdurchschnittliches Ergebnis vor allem im sprachlichen, aber auch im logischen Bereich erzielt hat, es "vom Kopf her" also könnte. Sie ist jetzt in der dritten Klasse, in ziemlich genau einem Jahr wird es sich für sie also entscheiden, welche Schulart sie besuchen wird. Das heißt, ab September gehen die Vorbereitungen für das "Grundschulabitur", wie es hier mehr oder weniger scherzhaft genannt wird, los. Es ist nun grundsätzlich nicht so, dass ich mein Kind mit aller Gewalt auf dem Gymnasium sehen möchte. Ich habe mir geschworen, keine Nachhilfelehrer etc. zu bemühen (auch das ist hier durchaus üblich). Unterricht, Hausaufgaben und maximal 1/2 Stunde zusätzliches Üben müssen reichen. Allerdings frage ich mich schon, ob ich ihr nicht eine Chance verbaue, wenn sie es mit Medikamenten vielleicht locker packen könnte. Das weiß ich aber erst hinterher. Und sie hat ja auch immer noch viele Möglichkeiten, ihr (Fach)Abitur nach der Regelschulzeit nachzumachen. Fos, Bos, das Spätberufenenkolleg im Nachbarort... da gibt es wirklich einiges. Ach, ich weiß es einfach nicht. Ich bin wirklich hin und her gerissen.
Meine Mutter ist bei diesem Thema auch keine große Hilfe. Ihrer Meinung nach ist ADHS eine Modeerkrankung, die sich mit ausreichend Bewegung und Erziehung vermeiden lässt bzw. mit der die Lehrer lebhafte Kinder abstempeln und die Verantwortung weiterreichen wollen. Und außerdem erklärt sie mir, seitdem ich ihr von der Diagnose erzählt habe, dass ich ja auch nicht die Ordentlichste sei und das Kind das wohl "nicht gestohlen" hätte. Ja, das mag ja sein, aber nur, weil ich evtl. ein ähnliches Problem habe, heißt das ja nicht, dass ich meiner Tochter bei ihren Problemen nicht zu helfen brauche. Im Gegenteil - vielleicht sollte ich selbst mir auch Hilfe suchen.
Meine Tochter selbst hat die Diagnose ganz schön mitgenommen, weil sie das Gefühl hat, "nicht richtig" zu sein. Ich habe mich, so gut ich konnte, bemüht, ihr die positiven Seiten näherzubringen - dass wir jetzt wissen, wo die Ursache vieler ihrer Probleme liegt, dass wir da ganz gezielt ansetzen können, um ihr zu helfen; dass sie in der Schule besser unterstützt werden kann usw. Und dass ich sie natürlich mindestens ganz genauso lieb habe wie vorher. Dass ich mir gar kein besseres Kind für mich vorstellen kann als sie. Dass das eben ein Teil ihrer Persönlichkeit ist, der zu ihr gehört und mit dem wir lernen werden, uns zu arrangieren. Trotzdem merke ich, wie sie grübelt und wie es an ihr nagt.
Insgesamt fühle ich mich im Moment ziemlich ausgelaugt und verunsichert. Und auch ein bisschen wie eine schlechte Mutter (das sagt mir mein Bauch, obwohl mein Kopf mir erklärt, dass ADHS ja angeboren und nicht anerzogen ist).
LG, JayCee