Heute wird's von mir etwas länger, ich möchte mir einfach nur mal alles runterschreiben, was in den letzten Wochen so passiert ist, vielleicht auch, um das Ganze ein bisschen sortiert zu bekommen. Ich weiß, dass die Entwicklung im Job unumkehrbar ist, und auch wahrscheinlich nicht alles so schwarz-weiß ist, wie ich es momentan sehe. Aber es ist irgendwie wie immer, wenn etwas passiert, dann alles auf einmal, beruflich und privat, und ich merke einfach, wie es mir gerade ziemlich die Füße wegzieht.
Zuerst die Arbeitsseite.
Vor nicht ganz einem Monat, bekamen wir an einem Dienstag Morgen eine Mail, dass unser Chef in nicht einmal einer Woche das Unternehmen verlassen wird. Der Schock war groß, wir sind grade dabei, nach einem Jahr Chaos so etwas wie eine fragile Routine in unserem High Tech Labor zu entwickeln, eine Ahnung zu bekommen, wie die verschiedenen Geräte und Komponenten miteinander kommunizieren und arbeiten. Wir haben uns als Team buchstäblich zusammengerauft, und der Chef war das Herz und das Hirn der ganzen Entwicklung. Wir - auch ich - hatten in der Anfangsphase teilweise ein großes Problem mit ihm, als er noch versucht hat, uns mit Durchhalteparolen zu motivieren, wir aber das Gefühl hatten, mit unseren Sorgen und Bedenken bei ihm abzuprallen. Ende letzten Jahres hatte ich - mitten im Labor, einfach so, auch für mich wie aus dem Nichts - einen vollkommenen Nervenzusammenbruch und war zwei Wochen krankgeschrieben. Das war ein Wendepunkt. Der Chef war wirklich betroffen, hat mich zu Hause angerufen und auch, als ich wieder in die Arbeit gekommen bin, mehrere "richtige" Gespräche geführt, nicht nur mit mir, sondern auch mit den Kollegen/innen. Ich hatte den Eindruck, da hat er begriffen, dass wir nicht nur "jammern" und mit dem neuen Labor fremdeln, sondern dass es so tatsächlich nicht mehr weitergeht. Von da an hat er unsere Meinungen und Erfahrungen ernstgenommen, und es hat sich eine richtig gute, konstruktive Zusammenarbeit entwickelt.
Von Oben und Außen kam derweil enormer Druck, weil das Labor nicht so funktionierte, wie es vorgesehen war. Das lag aber nicht an der Arbeitsweise unseres Chefs, sondern daran, dass im Vorfeld des Umzugs massiv Personal entlassen wurde, das jetzt an allen Ecken und Enden fehlt (die Automation funktioniert leider nicht so automatisch, wie das vom Hersteller versprochen wurde), und bei der Planung waren nur Theoretiker am Werk, die das ganze zwar wunderschön auf dem Papier entworfen haben. Nur leider ist es gleichzeitig so unpraktisch geplant, dass wir z.B. viele lange Wege haben, weil die Reagenzien am entgegengesetzten Ende des Labors gelagert werden oder Proben, die aus irgendeinem Grund manuell abgearbeitet werden müssen, wieder in einer völlig anderen Ecke des Labors rauskommen. Die Geräte stellten sich als unglaublich wartungsintensiv heraus, sodass der Personalschlüssel, den die Firma bei der Planung angegeben hat, mal eben verdoppelt werden musste (also genau das Personal benötigt würde, das vorher so großzügig abgebaut wurde). Aufgrund des massiven Fachkräftemangels ist es quasi unmöglich, die Stellen in absehbarer Zeit neu zu besetzen, zumal auch noch eine Einarbeitungszeit von mindestens einem halben Jahr erforderlich ist, bis neue Kollegen/innen alleine Dienste bestreiten können. Diese Fehler, die an höherer Stelle gemacht wurden führten dazu, dass nicht nur einmal die temporäre Schließung einer oder mehrerer Häuser im Raum stand. Schließlich wurden von der "großen Politik" wohl Köpfe gefordert, und der unseres Chefs musste rollen.
Wir hatten eine - trotz der traurigen Umstände - schöne und fröhliche Abschiedsfeier, in der wir unserem Chef auch einen "Abschiedsbrief" vorgelesen und überreicht haben, der ihn sehr berührt hat. Er hat auch an diesem Abend mit jedem noch einmal ein paar persönliche Worte gewechselt. Zu mir hat er gesagt, dass er mich wahnsinnig für meine innere Stärke bewundert. Er hätte nicht geglaubt, dass ich mich nach diesem Nervenzusammenbruch noch einmal so aufrappeln und mich so engagiert in das Team einbringen würde. Ich fand das so toll. Ich war mir eigentlich sicher, dass ich nach diesem Vorfall mehr oder weniger schnell aussortiert werden würde, weil ich nicht belastbar genug sei. Das Gegenteil war der Fall. Trotz dem ganzen Druck von außen, hat er sich die Zeit für die vorhin schon erwähnten Gespräche genommen und mir damit den Rücken gestärkt. Ich hatte an anderer Stelle hier im Forum mal nachgefragt, ob ich ihm wohl schreiben solle, wie sehr es mich gefreut hat, dass er mir diese Worte mit auf den Weg gegeben hat, und habe mich dann Gott sei Dank dafür entschieden.
In der folgenden Woche zeigte die Geschäftsführung sehr viel Präsenz bei uns im Labor, wohl um uns, vor allem, nachdem wir das, zu demonstrieren, dass wir trotz der fehlenden Institutsleitung nicht "Führungslos" sind. Auf einen offenen Brief von uns, wie wir zu dem kurzfristigen Weggang unseres Chefs stehen, folgte eine Mail, in der ausgeführt wurde, wie wichtig das teure, neue Labor der Geschäftsführung sei, dass ein Verkauf nicht im Raum stehe und verlorenes Vertrauen unsererseits durch stete Präsenz wieder aufgebaut werden solle. Wir sollen uns bei aufkommenden Gerüchten und Befürchtungen gerne melden.
Da diese Einschätzung der Sorgen, die das Team momentan umtreiben, völlig in die falsche Richtung liefen, entschloss ich mich dazu, der Aufforderung zu folgen und meine Ansichten und Befürchtungen in einer Mail dem Geschäftsführer mitzuteilen. Ich führte noch einmal aus, welche tragende Rolle unser Chef für uns alle und für die sich langsam einpendelnden Routinen hatte. Und ich erzählte von der Verunsicherung, die wegen der akuten Führungslosigkeit im Team derzeit herrscht, von der Angst, dass die Fortschritte, die wir in den letzten Monaten so mühsam erzielt hatten, zunichte gemacht werden, von der allgemeinen Erschöpfung im Team - dadurch, dass so wenige alles können, mussten diese wenigen unglaublich viele Dienste und Überstunden ableisten - und dass einige einfach nicht mehr können und mit dem Gedanken spielen, nun ebenfalls zu gehen. Dass ich nicht weiß, wie es dann weitergehen soll, weil wir jetzt schon am, wenn nicht über dem Anschlag sind. Ich habe auch gesagt, dass ich persönlich, als Alleinerziehende, meiner Tochter nicht noch ein Jahr oder mehr zumuten kann, in dem ich jedes zweite Wochenende in der Arbeit verbringe und wir uns oft auch tagelang unter der Woche nicht sehen können, wenn ich Spätdienste habe.
Diese Mail habe ich am Samstag Abend in meinem Dienst abgeschickt, und am Sonntag Morgen rief der Geschäftsführer an und wollte mich sprechen. Meine Mail hätte ihn zum Nachdenken gebracht, und er würde gerne persönlich mit mir sprechen. Das ist ihm offensichtlich so wichtig, dass wir in der letzten Woche mehrmals hin und her telefoniert haben, weil sein Termin- und mein Dienstplan vor unseren jeweiligen Urlauben einfach nicht in Einklang zu bringen waren, darum haben wir dieses Gespräch nun auf in drei Wochen vertagt. Ich muss sagen, ich bin ein wenig verblüfft, im positiven Sinn, dass es ihm als oberstem Chef von vier Kliniken so wichtig ist mit mir, einer Mitarbeiterin an der Basis, zu sprechen (auch wenn ich natürlich aus meinem eigenen Freundeskreis weiß, dass auch diese "Hohen Tiere" meistens eigentlich ganz nette Menschen sind, die halt einfach aus ihrer erhöhten Position eine andere, viel breiter gefasste Sicht auf die Belange des Unternehmens haben (müssen) als wir "Kleinen" in unserem Mikrokosmos). Trotzdem bin ich natürlich ein bisschen nervös.
Nachdem mein Alter Chef mir mit seinen letzten persönlichen Worten so ein gutes Gefühl mit auf den Weg gegeben hat, habe ich mich dazu entschlossen, ihm auch diese Mail zukommen zu lassen, damit er sieht, dass wir, obwohl der Zustand natürlich nicht mehr umkehrbar ist, deutlich sagen, wie wichtig er für uns war. Ich hatte einfach das Bedürfnis, ihm nochmal zu zeigen, dass ich wirklich sehe, was er für uns getan hat und dass er, auch wenn es mit der "Obrigkeit" Differenzen gab, er bei uns als Team einen riesigen Stein im Brett hat, und dass er uns fehlen wird. Ich war mir ein bisschen unsicher, ob das nicht "too much" ist, aber ich habe mittlerweile schon von so vielen Menschen Abschied genommen, ohne dass ich gesagt habe, was ich eigentlich noch sagen wollte, dass ich diesen Fehler nicht noch einmal machen wollte. Und außerdem - was sollte schon passieren? Im schlimmsten Fall blockt er mich, weil ich ihm zu "anhänglich" bin, im besten Fall freut er sich. Und letzteres war der Fall. Wir haben vereinbart, dass ich ende September (irgendwann ist auch so ein blödes Wort, daher gleich Nägel mit Köpfen) bei den Kollegen rumfrage und wir dann noch einmal ein Treffen in kleinerem Kreis organisieren.